SS 1997 25.6.1997
Dozent: Dr. Wächter
Referent: Wolfgang Hanagarth
Thema: Was kann Allgemeinbildung heute bedeuten ?
Prof. Dr. Wolfgang Fischer, Duisburg
- Zweifellos eine Frage der Aktualität des Themas Allgemeinbildung insbesondere in
der bildungs- und gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit und angesichts der ökonomischen
und technischen Entwicklung.
- Vordringen
der neuen Informationstechnik und Medien in den beruflichen und privaten
Lebensbereich, am Beispiel des Computers (C 64, PC, Video, Videokonferenzen, Telefon,...)
- Aber auch in den Schulen, was vor allem die oder uns Pädagogen nicht kalt lassen
könne.
- Frage, ob denn eine fächerübergreifende, informationstechnische
Grundausbildung für jedermann in das Zentrum der heute notwendigen Allgemeinbildung
gehört.
- Frage, ob denn dem Begriff Allgemeinbildung noch ein Gebrauchsrecht
zustehe oder
- Ob seine Zeit abgelaufen und seine Weiter- und Wiederverwendung bloß eine
lässige, gar sich und andere täuschende Gewohnheit ist.
Gliederung:
- Erläuterung des Themas
- Bedeutung von Allgemeinbildung heute ?
- Contra
- Bedenken
Zu 1. Erläuterung des Themas
Allgemeinbildung in Geschichte und Gegenwart
- Zur Frage, was denn heute Allgemeinbildung bedeuten könne, setzt man dreierlei voraus:
- Allgemeinbildung hat in der Vergangenheit eine nicht unwesentliche Rolle in der
Pädagogik gespielt
- Konzept der Allgemeinbildung zur Zeit eine ernsthafte Krise
- Krise oder Abgang sogenannter allgemeiner Bildung nicht ohne weiteres hingenommen,
sondern als Verhängnis oder schmerzlicher Verlust beklagt wird.
- Durch Wiederbelebung, Neuvermessung, Aktualisierung des guten Alten eventuell sogar
rückgängig gemacht wird.
Anfänge in der Antike
- Wort Allgemeinbildung scheint sich erst im 20. Jahrhundert in unsere Sprache
eingebürgert zu haben (Tenorth in :Bildung allgemeine Bildung, Allgemeinbildung)
- Beginn aber schon im 5. Jh. V. Chr., bald nach dem Einsetzen pädagogischer Reflexionen
überhaupt (Griechen, Römer).
- Nach der Verteidigung der griechischen Freiheit in den Kriegen gegen die Perser (500-449
v. Chr.) Entstand Wohlstand, Reichtum und Luxus, und damit auch das Bedürfnis nach
höherer Bildung.
- Die demokratische Verfassung erhob die Kunst der öffentlichen Rede zu wachsender
Bedeutung.
- Wer Karriere machen wollte, wozu grundsätzlich jedem "Bürger" der Weg offen
stand, bedurfte einer gründlichen Ausbildung als Staatsmann und Redner. (S.144 Störig)
- Ende des 4. Vorchristlichen Jahrhunderts taucht der älteste, charakteristische Begriff
der "enkyklios paideía" auf.
- Wurzeln sind wohl bei den Sophisten zu vermuten.
- Sophisten: gr. "Sophistai" heißt Lehrer der Wahrheit. Wanderlehrer, welche
gegen entsprechende Bezahlung vor allem in der Beredsamkeit unterrichteten.
- Nicht Lehrsätze, sondern Leistungen der Sophistik bleiben übrig
- Blick von der Natur weg auf den Menschen
- Denken selbst zum erstenmal zum Gegenstand des Denkens gemacht, und mit einer Kritik
seiner Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen begonnen.
- Betrachtung ethischer Wertmaßstäbe (Wissenschaftliche Behandlung der Ethik und somit
folgerichtige Einbindung in ein philosophisches System)
- Vorantreiben von Sprachwissenschaft, Grammatik
- Protagoras aus Abdera (480-410 v.Chr.) , Gorgias von Leontinoi
Septem artes liberales:
- Rhetorik
- Grammatik
- Dialektik
- Geometrie
- Arithmetik
- Astronomie
- Musik
- Trivium
- mathematische Quadrivium
Die zweckfreien Künste, unentbehrliches Bildungsgut der klassisch
höheren Studioen Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Jahrhundertelang hatte dieser
"Lehrplan des Abendlandes"(J. Dolch, 1971) Bestand.
Zu den Anfängen in der Antike:
- Es ging also nicht darum, irgendeine spezielle, handwerkliche, künstlerische oder
überhaupt mit Erwerb und Arbeit zusammenhängende Tüchtigkeit zu entwickeln,
- sondern um die Bildung der Urteilskraft des jungen Geistes für ein sich anschließendes
Fachstudium.
Die Metaphysik der Allgemeinbildung
- Frage, ob denn all diese Studien nur der bürgerlichen Tugendhaftigkeit, der
Wohlberatenheit in den öffentlichen und privaten Angelegenheiten, der inneren
Wohlgeordnetheit, dem Vollbringen großer Taten, einer erfolgreiche Karriere usw. auf die
Sprünge helfen.
These:
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen den freien Künsten und der angestrebten Lebensform
?
Folgende Hypothese:
- Idee der Totalität der Bedingungen des Kosmos (Zahl und Verhältnis)
- Totalität der Bedingungen des Handelns in der Polis (gefaßt in Wort und Rede)
- Handeln und Erfahrung von Natur und Welt wurden auf etwas Allgemeines gestellt.
- Wichtig also nicht mehr unbedingt adliges Geblüt, Mythos wie Volks- und
Heroenerzählungen
- Zwar galten die alten Werte wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit. Doch wurden
diese bald verdrängt.
- Allgemeinbildung als ein Zusammengeraten mehrere Funktionen.
- Unterricht und Erziehung mußten für die Bildung allgemein ästhetisch , sprachlich,
mathematisch und historisch sein.
Krise der Allgemeinbildung in der Gegenwart
Zur Zeit ist es um die Allgemeinbildung nicht zum besten bestellt,
sogar von Krise oder Tod wird gesprochen.
Es soll aber nicht primär ein Mangel an Kenntnissen oder Fertigkeiten
gemeint sein.
- Wenn solches beklagt wird, bezieht es sich hauptsächlich auf Enttäuschungen, die
gewisse von Stand, Fach, auch Alter und persönliche Wertschätzungen gefärbte
Eingangserwartungen für Lehre oder Studium betreffen.
- Von Handwerksmeistern oder Professoren.
- Im übrigen widerlegt es sich schon von alleine, daß das Maß vorschwebende Ideal
größtmöglicher Kenntnismenge sich schon alleine dadurch widerlegt, daß es nicht einmal
annähernd erreicht ist.
- Für die Krise der Allgemeinbildung kann gesagt werden, daß für das Allgemeine keine
Theorien, Religionen, kein Welt- oder Menschenbild, keine Lebensanschauung, keine
Gestalten, keine geschichtlichen Befunde usw. zugrunde gelegt werden können.
- Die Frage wäre, was von den oben genannten Begriffen in Zukunft übernommen werden
kann, um als allgemeinbildend gewertet zu werden.
- Allgemeinbildung in Gymnasien und der Hauptschule
- Gymnasium als Rekrutierungsfeld für akademische Berufslaufbahnen und Offiziere
- Volksschulen als Ort volkstümlicher Bildung.
- Dadurch Frage und Krise der Allgemeinbildung !!!
- Sortierungs- und Präparierungsinstrument
Verfall des Allgemeinbildungsgedankens
Der Ruf nach einer neuen Allgemeinbildung
- Zitat Hartmut von Hentig 1984: "Spezialisierung ist unser Schicksal. Es gibt keine
gemeinsame Bildung mehr, und damit endet die alte allgemeine Bildung. Die allgemeine
Bildung ist geradezu die Voraussetzung dafür, daß das Ganze noch erkannt wird."
- An ihrer Auflösung kann folglich niemand gelegen sein, dem Verständigung unter den
Menschen und so etwas wie Lebenskompetenz nicht gleichgültig sind.
Problem, daß Lehren und Lernen, Erziehung und Unterricht über jeweils
Besonderes nicht hinausreichen.
Auswahlbegrenzungen bloß nach künftigen Verwendungs- und
Verwertungsgesichtspunkten erfolgt. (Frage: Brauche ich das später überhaupt ?)
Zu 2. Bedeutung der Allgemeinbildung heute
Der Rückgriff auf Kant
Geboren 1724 in Königsberg, 1804 in Königsberg begraben.
Dauernder Prozeß, Allgemeinbildung neu zu definieren und diese dann
auch praktisch umzusetzen.
Zitat S. 897
"In der Allgemeinbildung handelte es sich bisher stets darum,
Erziehung und Unterricht, Lehren und Lernen nicht in irgendwelchem Besonderen aufgehen zu
lassen, sondern den Menschen zu einer konkret gefaßten Allgemeinheit oder Totalität der
Bedingungen zu erheben, die dem Besonderen entgegen- oder voran- oder darübergestellt
oder die stattdessen ins Auge gefaßt wurde."
- Allgemeinbildung scheint aber auch im Medium des beruflich Speziellen angesiedelt zu
sein.
Zu 3. Contra
Das Betrügerische der Allgemeinbildung
- Fakt ist, daß heute Allgemeinbildung zum zentralen Grundbegriff der Totalität gemacht
wurde.
- Politisch weltanschauliche Sinn einer Epoche oder gar der Menschheitsgeschichte
werden für das Absolute und Letztverbindliche ausgegeben.
- Davon ist Abstand zu nehmen.
Frage, ob man denn Allgemeinbildung weiterführen kann, bewußt
fortführen, obwohl diese als Verfehlung der Sache einsehbar ist.
Zu 4. Bedenken
Allgemeinbildung heute als politische Bildung
"Nicht Verzicht auf Allgemeinbildung, allerdings auch nicht
Restauration durch die Wiederherstellung eines verbindlichen Kanons von privilegierten
Allgemeinbildung verbürgenden Fächern unter Ausmerzung solcher Exoten wie "Rechts-,
Berufs- und Wirtschaftskunde" ist ihre Devise, sondern Reformation als mehr oder
weniger radikale Umgestaltung."
- Befürworter reformierter Allgemeinbildung ist Theodor Wilhelm
- Allgemeinbildung sterbe zu lassen, bedeute gleichzeitig, daß unsere rechtlich und
zivilisierte Welt keine Chance des Überlebens hat.
- Daher rührt womöglich die "politische Apathie", keine verantwortliche
Anteilnahme an der politischen Sphäre.
Bildung statt Allgemeinbildung
- Wird mit der Entrechtung allgemeiner Bildung nicht zuletzt alle Gemeinsamkeiten unter
den Menschen aufgekündigt ?
- Wird dadurch Fachidiotismus und manipuierbarer Neugierigkeit Tür und tor geöffnet ?
(Konsens Moral der Gentechnik,...)
- Wird den jugendlichen Heranwachsenden nicht das Eindringen in Sach- und Problemfelder
verweigert ?
- Rückhaltloses Denken, daß die Alten "sképtomai" nannten, d.h.:
Umherschauen, Erwägen, Untersuchen, Nachdenken.
- Heute kann man sich leichter über der Wert der Allgemeinbildung als über den Begriff
selbst einigen.
Zitat Maier, Seite 2
Allgemeinbildung zielt auf das Verbindende von Welt und Mensch, auf das
Verhältnis zum Ganzen
- Allgemeinbildung ist also jene innere Gestalt, zu der ein Mensch gelangt, wenn er seine
schöpferischen Kräfte in Auseinandersetzung mit Kultur und Natur entfaltet.
- Allgemeinbildung heißt Wert- und Weltorientierung.
- In die Fülle von Eindrücken, neuen Erkenntnissen, Daten und Informationen soll einige
Ordnung gebracht werden.
- Trägt also zur Ordnung der Vorstellungswelt, vor allem für Kinder bei.
- Tragende erzieherische und religiöse Mächte sind schwächer geworden, weil neben dem
Elternhaus viele Miterzieher, allen voran die Medien, stehen,
- und weil die Schule ihr früheres Monopol der Wissensvermittlung und Weltdeutung
verloren hat.
- Allgemeinbildung ist Konzentration: Multa non multum.
- Das Wissen steigt stetig voran, bringt die Schulen in Bedrängnis.
- Welche Bereiche umspannt der Bildungskanon heute ?
- Sprachlich-literarisch-künstlerisches Aufgabenfeld (Deutsch, Fremdsprachen,
künstlerische Fächer-Einführung in den eigenen Kulturzusammenhang)
- Gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfelder 8Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde,
Wirtschafts- und Rechtslehre, auch Religionslehre) für die Gegebenheiten des
alltäglichen Lebens.
- Mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Aufgabenfeld.
Verweis auf Untersuchung...
Allgemeinbildung heißt Beherrschung des Elementaren und Verzicht auf
Spezialbildung
- Wir alle werden künftig, als Gesamtgesellschaft, über mehr Wissen, mehr Erkenntnis
verfügen als jede Generation vor uns.
- Aber wir werden zugleich, als einzelne, weniger "vom Ganzen" wissen als
frühere Generationen.
- Zitat Maier, S. 4
- Entscheidend ist dann die Einübung von Denk- und Urteilsfähigkeit, Ordnung der
vielfältig auf den jungen Menschen eindringenden Erscheinungen.
- Eventuell auch auf das Sensorium der zur Korrektur von den Medien vermittelten
sekundären Realität.