Wandervogel

Geschichte des Judentums

Wolfgang H. Hanagarth

WS 1998/99

Farben der DHG Westmark

 

Juden, im modernen Sprachgebrauch häufig wortgleich mit Hebräern und Israeliten verwendet. In historischer und ethnischer Hinsicht haben die Begriffe jedoch unterschiedliche Bedeutungen. Als allgemeiner geschichtlicher Terminus bezeichnet das Wort Hebräer alle semitischen Nomadenstämme, die um 1500 v. Chr. den östlichen Mittelmeerraum durchzogen. In der jüdischen Geschichte dient er jedoch als Bezeichnung ausschließlich jener Gruppen, die Jahwe als Gottheit anerkannten, und zwar von ihren Ursprüngen an bis zu jener Zeit, als sie das antike Palästina, Kanaan genannt, eroberten und sich – um 1020 v. Chr. – zu einer einzigen, von einem König regierten Nation zusammenschlossen. Die Israeliten gehören indes einer bestimmten ethnischen und nationalen Gruppe zu, die von den Hebräern abstammte und einen gemeinsamen Glauben teilte. Historisch exakt umfaßt der Begriff diese Gemeinschaft von der Eroberung Kanaans bis zur Zerstörung des Königreiches Israel 721 v. Chr. durch den assyrischen König Sargon II. (Regierungszeit 722-705 v. Chr.). Der Name Jude schließlich steht für die kulturellen Nachfahren der beiden erstgenannten Gruppen von der Zeit ihrer Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bis in die Gegenwart. Das Wort selbst leitet sich von hebräisch yehudhi ab und galt ursprünglich für die Mitglieder des hebräischen Stammes Juda und später für die Zugehörigkeit zur Provinz Judäa. Das deutsche Wort Jude geht direkt auf lateinisch judaeus, Bewohner Judäas, zurück.

Die heutigen Juden gehören einer ethnischen Gemeinschaft an, die allen Verfolgungen zum Trotz über 19 Jahrhunderte ihre Identität – von der Auflösung der römischen Provinz Judäa 135 bis zur Gründung des Staates Israel 1948 – bewahren konnte. Traditionell gilt als Jude jedes Kind einer jüdischen Mutter, oder wer nach orthodoxer Norm zum Judentum übergetreten ist. Die bemerkenswert dauerhafte jüdische Gruppenidentität erklärt sich aus der Zugehörigkeit zum Judentum, dessen Geschichte sich untrennbar mit jener der Juden selbst verbindet und das jüdische Leben in allen Bereichen prägt. Zu den traditionellen Lehren gehören die Hoffnung und das Vertrauen auf das Kommen eines messianischen Königreiches. Obgleich Reformbewegungen das Judentum seit dem 19. Jahrhundert stark zu verändern begannen, konnte die Gemeinschaft als Ganzes überleben, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die vorangegangenen Generationen streng nach dem Gesetz lebten und dieses getreu überlieferten. Zu den besonderen Merkmalen des jüdischen Volkes gehören der Respekt und die Hingabe, mit der sich die Menschen dem Lernen und Studieren widmen, da beides als Dienst an Gott gilt.

 

Die Hebräer in Kanaan

Die biblischen Berichte der hebräischen Genealogie und Geschichte sind in den meisten Punkten glaubwürdig und lassen sich vielfach durch archäologische oder historische Studien bestätigen. In ihrer heutigen Form wurden sie jedoch erst Jahrhunderte nach den dargestellten Ereignissen niedergeschrieben und bedürfen daher der sorgfältigen Interpretation. Obwohl Moses seinen Vater als Aramäer bezeichnet (A.T., Deuteronomium 26, 5), stammen die Israeliten jedoch nicht allein von den Aramäern, sondern auch von Amoritern und Hethitern ab, wobei die typische jüdische Physiognomie, wie sie auf alten babylonischen Wandgemälden erscheint, am deutlichsten jener der Hethiter ähnelt. Die jüdische Sprache gehört zur Gruppe der nordwestlichen semitischen Sprachen.

 

Die zwölf Stämme

Die Geschichte der Stämme als Nachfahren des Ahnherren Jakob, wie sie das Alte Testament erzählt, muß im Licht des Nationalbewußtseins betrachtet werden, das die jüdischen Verfasser und Herausgeber der historischen Bücher im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelt hatten. In ihrem Bemühen, einen fortlaufenden und genauen Bericht zu geben, der eine gemeinsame Abstammungslinie schuf, machten diese Autoren zweifellos die Legende zur Geschichte. Gleichwohl besteht kein krasser Widerspruch zwischen biblischer Erzählung und den Ergebnissen der historischen Forschung. Die Schriften sprechen von zwölf hebräischen Stämmen, den Nachfahren der zwölf Söhne Jakobs: Aser, Benjamin, Dan, Gad, Issakar, Joseph, Juda, Levi, Naphtali, Ruben, Simeon und Zebulon. Die Forschung sieht die Jakobsgeschichte als symbolhafte Darstellung an, bei der sich die Stammesgeschichte mit persönlichen Erfahrungen vermischt hat. Zwischen den Stämmen herrschte Blutsverwandtschaft, einige von ihnen, vor allem Ruben, Simeon, Levi und Juda (Söhne derselben Mutter) unterhielten noch engere Beziehungen. Aser und Gad (Kinder von Dienerinnen) gehörten zu den unterworfenen Stämmen. Auch der Bund zwischen Jakob und Laban (A.T., Genesis 31, 44-54) personifiziert die Stammesgeschichte. Wissenschaftler erblicken in ihm einen frühen Vertrag zwischen hebräischen und syrischen Stämmen, die die Grenzen ihrer Weideländer im Norden von Gilead absteckten.

Der alttestamentlichen Tradition sowie der historischen Theorie zufolge kamen die aramäischen Vorfahren Israels aus der Gegend von Ur in Sumer am unteren Euphrat. Zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. gelangte eine Gruppe aramäischer Stämme in die Region von Carrhae (heute Harran, Türkei), einer alten babylonischen Kolonie. Einige Jahrhunderte später zogen mehrere Familienverbände weiter in südwestliche Richtung und ließen sich in vereinzelten Gruppen am Jordan nieder. Aus diesen Siedlern entstanden die hebräischen Stämme, die neben den Jahwegläubigen auch die Ammoniter, Moabiter und Edomiter umfaßten.

 

Der Exodus

Einige der Stämme, die traditionell der Gruppe von Joseph zugerechnet werden, begaben sich zwischen 1694 und 1600 v. Chr. nach Ägypten, wo die Hyksoskönige, die semitischen Eroberer Ägyptens, herrschten. Bis zu deren Absetzung (um 1570 v. Chr.) lebten die Stämme friedlich zusammen, dann wurden die Hebräer als Fremde verfolgt und zu Sklaven gemacht. Viele Historiker werten den Exodus als erfolgreichen Versuch der gefangenen Hebräer, sich mit verwandten hebräischen Stämmen zu vereinigen. Selbst archäologische Funde von Inschriften in Ägypten geben keinerlei Hinweis auf den Auszug, wahrscheinlich deshalb, weil die ägyptischen Hebräer höchstens einige tausend Menschen zählten und ihr Weggang kein großes Aufsehen erregte.

Im Gegensatz dazu mißt die jüdische Geschichte dem Exodus große Bedeutung bei. Moses hatte auf dem heiligen Berg Sinai den Bund mit Jahwe geschlossen und damit den Grundstein für den jüdischen Glauben gelegt, mit dem sich auch nomadentypische Vorstellungen von Eigentum, individuellem Recht, Sexualmoral und der Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft verbanden. Die Freiheitsliebe, die ebenfalls zu den hervorstechenden Charakteristika der wandernden Semiten zählte, und der Gedanke eines gesetzgebenden, königlichen Schöpfergottes bildeten die übrigen Merkmale der Religion und späteren politischen Theorie Israels.

Die Eroberung Kanaans im 2. Jahrtausend v. Chr. kam nicht allein durch militärische Siege, sondern ebenso durch Hochzeiten und Bündnisse zustande. Überdies nutzten die Invasoren die Gelegenheit, ihre Macht ungestört zu entfalten. Die Position der Ägypter, Hethiter und Sumerer war geschwächt, Assyrien besaß zwar alle Voraussetzungen zu einer Großmacht, hatte seine Kräfte jedoch noch nicht gesammelt. Unter Moses‘ Nachfolger Josua überquerten die Stämme Jahwes den Jordan, nahmen Jericho sowie die umliegende Ebene ein und siedelten sich im Westen Palästinas an. Zwar vermochten sie die Zahl der Kanaaniter nicht aufzuwiegen, doch fühlten sie sich durch ihren religiösen Bund und ihre gemeinsame Abstammung vereint. In der Zeit der Richter, der großen militärischen und zivilen Führer, sicherten die Israeliten ihr Land. Sie schlugen Angriffe der Moabiter, Midianiter und vor allem der Philister zurück, die aus der Ägäis gekommen waren.

 

Das Königreich

Mit der Thronbesteigung Sauls, des ersten israelitischen Königs, vollzog sich um 1020 v. Chr. der Zusammenschluß der Stämme zu einer politischen Einheit. Sauls Nachfolger David erweiterte die Grenzen des Reiches.

 

Das Königreich unter David

David eroberte Jerusalem, die stärkste Bastion Palästinas, und machte es zu seiner Hauptstadt. Unter seinem Oberbefehl brach die israelitische Armee die Macht der Philister und nahm Edom, Ammon sowie Moab ein. David strukturierte auch den Gottesdienst neu, regelte die Pflichten der Priesterschaft und machte die Religion der Israeliten zum vorherrschenden Kult in Palästina. Bei seinem Tod waren alle benachbarten Länder entweder unterworfen oder durch Freundschaftsverträge an Israel gebunden.

 

Salomos Herrschaft

Davids Sohn und Nachfolger Salomo machte sich einen Namen als Erbauer des Tempels von Jerusalem, der sich zum Symbol des israelitischen Glanzes und Ruhmes entwickelte. Salomo besaß große Macht und führte das Reich zur wirtschaftlichen Blüte. Er vereinheitlichte die Verwaltung des Reiches und förderte Handel und Industrie, indem er Handelsstraßen nach Afrika, Asien, Arabien und Kleinasien bauen ließ. Da er bemüht war, die politische Stellung des Königreiches zu stärken, heiratete er zahlreiche einflußreiche Frauen aus benachbarten Fürstentümern. Salomos aufwendiger Lebensstil und die Umsetzung seiner bildungspolitischen Ziele, die sich aus verschiedenen Funden in Meggido ableiten lassen, verschlangen jedoch große Geldsummen und erforderten ein riesiges Heer von Sklaven. Zwangsarbeit und hohe Steuern lösten Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus und führten zur politischen Instabilität. Im Südosten unternahmen die Edomiter eine erfolgreiche Revolte, und der Bezirk von Damaskus im Nordwesten befreite sich von der Hegemonie der Israeliten. Salomos Hang zum Luxus und die Ausbeutung seiner Untertanen widersprachen der nomadischen Tradition der Israeliten, in der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit zu den höchsten Prinzipien zählten, so daß sich nach dem Tod des Königs, um 922 v. Chr., das Reich spaltete.

 

Das geteilte Reich

Nach Salomos Tod kehrte Jerobeam, der nach einer fehlgeschlagenen Verschwörung gegen den Herrscher im Exil gelebt hatte, aus Ägypten zurück. Eine von ihm geführte Abordnung forderte von Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam die Garantie für Reformen, was dieser jedoch ablehnte. In der nun folgenden Auseinandersetzung fand Jerobeam Unterstützung durch den ägyptischen König Scheschonk I. (Regierungszeit 946-913 v. Chr.), der mit biblischem Namen Schischak hieß. Er drang in Rehabeams Königreich ein, plünderte und raubte schließlich den Tempel aus. Das Reich wurde geteilt, und als Jerobeam I. trat der Rebell die Herrschaft über die nördlichen Landesteile an. Nach biblischer Überlieferung gehörten zum Königreich Israel zehn der zwölf Stämme, nämlich alle mit Ausnahme von Juda und Benjamin. Rehabeam regierte im Süden das spätere Königreich Juda. Es umfaßte ein Gebiet von rund 775 Quadratkilometern und hatte nur noch eine untergeordnete Bedeutung. In Dan und Bethel errichteten die Israeliten eigene Heiligtümer, und obgleich die Bewohner beider Staaten sich nach wie vor als Volk fühlten, blieben sie politisch getrennt.

In den nächsten beiden Jahrhunderten prägten eine Vielzahl von Kämpfen zwischen Kleinstaaten die jüdische Geschichte. So führten Israel, Juda, Moab, Edom und Damaskus Krieg gegeneinander. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts v. Chr. erlangte Israel unter König Omri (Regierungszeit 876-869 v. Chr.) einen Teil seiner alten Macht zurück. Um 870 v. Chr. gründete Omri Samaria als Hauptstadt Israels und leitete eine Phase des Friedens ein. Unter Ahab, seinem Sohn und Thronfolger, wurde das Reich durch einen innenpolitischen Streit um religiöse Fragen zerrüttet. Ahabs Frau Isebel, eine Prinzessin von Tyrus, förderte den Baalkult und stellte dadurch die alleinige Verehrung Jahwes in Frage. Dies führte zu einem religiös wie auch politisch motivierten Sturm der Entrüstung. Eine Reihe von Propheten versuchte, das Gewissen des Volkes wachzurütteln. So riefen im Nordreich Elia, Elisa, Amos und Hosea dazu auf, zu den Werten und Traditionen zurückzukehren, die sich in der Nomadenzeit entwickelt hatten. In Juda kämpften Jesaja und Micha gegen Idolatrie und Prunksucht. Im 8. Jahrhundert v. Chr. hatte Assyrien sich zur entscheidenden Macht im Mittleren Osten emporgeschwungen und stand nun an den Grenzen der geschwächten Reiche.

Über ein Jahrhundert lang hatten die Assyrer danach getrachtet, Palästina zu erobern. 853 v. Chr. kam es zu einer ersten großen Invasion unter der Führung von König Schalmaneser III. (Regierungszeit 859-824 v. Chr.). In der Schlacht von Karkar gelang es indes einem Verbund kleiner Staaten (Israel eingeschlossen) unter Ben-hadad I., dem König von Damaskus (gestorben um 841 v. Chr.), den Angriff zurückzuschlagen. Assyrien zog sich zurück, doch seine Truppen bedrohten weiterhin die Grenzen zu Palästina. Als 734 v. Chr. die wachsenden Streitigkeiten unter den betroffenen Ländern eine erneute Koalition ausschlossen, nahm die assyrische Armee unter Tiglat-Pileser III. (Regierungszeit 745-727 v. Chr.) Israel ein. Nur die Bastion von Samaria konnte sich bis 721 v. Chr. halten, ehe die Assyrer sie stürmten und die Stadt besetzten. Sie zerstörten das Königreich Israel und verschleppten viele seiner Einwohner. In Samaria wurden Einwanderer aus Mesopotamien angesiedelt, die die Religion der Israeliten annahmen und eine unter dem Namen Samariter bekannte Glaubensgemeinschaft bildeten. Das Königreich Juda mußte zwar an die Assyrer Tribut entrichten, konnte seine nominelle Unabhängigkeit aber weitere 135 Jahre wahren.

 

Die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar

Im darauffolgenden Jahrhundert behielt Juda seine Identität, während sich die Macht im Mittleren Osten von Assyrien nach Ägypten und schließlich zum wiedererblühten babylonischen Reich der Chaldäer verschob. Hatte sich Juda schon den Assyrern nicht unterworfen, so weigerte es sich erst recht, die Herrschaft der Chaldäer anzuerkennen. 598 v. Chr. zog Nebukadnezar II., der über Chaldäa regierte, gegen die aufsässigen Judäer ins Feld und eroberte Jerusalem. Die Mehrzahl der besiegten Adligen, Krieger und Handwerker brachte er nach Babylon und ernannte Zedekia zum König über Juda. 588 v. Chr. führte dieser eine Revolte gegen die Chaldäer an. Zwei Jahre später eroberten die Soldaten Nebukadnezars Juda und legten Jerusalem in Schutt und Asche. Alle Judäer, die im Verdacht standen, an dem Aufruhr beteiligt gewesen zu sein, verschleppten sie nach Babylon. Eine kleine Gruppe floh nach Ägypten und nahm – gegen dessen Willen – den Propheten Jeremia mit. Nur die arme Landbevölkerung blieb in der Heimat. Das Babylonische Exil beendete, abgesehen von einer kurzen Spanne über vier Jahrhunderte später, die politische Unabhängigkeit des alten Israel.

 

Das unterworfene Judäa

Als die Chaldäer Juda auflösten, lebten die Judäer in Ägypten, Babylon und unter der bäuerlichen Bevölkerung Palästinas.

 

Leben in Babylon

Die größte und bedeutendste Gemeinschaft war in Babylon. Hier gründeten die Verbannten gemeinsam mit 597 v. Chr. aus Judäa verschleppten Glaubensbrüdern und anderen, die sich während der Zerstörung Israels 721 v. Chr. hier niedergelassen hatten, eine blühende Kolonie. Unter der Führung des Priesters und Reformers Ezechiel bewahrte die Gemeinde ihre Identität, indem sie das politische Israel durch das religiöse ersetzte. Neu eingeführte Rituale und Liturgien regelten das Leben in der Fremde. Schriftsteller begannen, die israelitischen Traditionen zu sammeln und zu den späteren biblischen Büchern zusammenzustellen. Gebetsversammlungen nahmen den Platz des früheren Tempeldienstes ein. Ein anonymer Prophet, der im Alten Testament Deuterojesaja genannt wird, da seine Worte den zweiten Teil des Buches Jesaja bilden, bereitete die Gläubigen auf ein neues Leben in einem wiederaufgebauten Jerusalem vor.

 

Rückkehr nach Jerusalem

539 v. Chr. wurde Babylon von Cyrus dem Großen, dem Begründer des Persischen Reiches, erobert. Im darauffolgenden Jahr gab er ein Edikt heraus, das den Juden die Freiheit schenkte. 42 000 Mitglieder der babylonischen Gemeinde bereiteten ihre Rückkehr nach Palästina vor und machten sich, versehen mit Spenden der in Babylon verbleibenden Israeliten und Geschenken von Cyrus selbst, auf den Weg. Serubbabel, ein Fürst aus dem Hause David, führte den Zug nach Jerusalem. Noch immer waren die Spuren der chaldäischen Kriege deutlich zu sehen, und die Heimkehrer schienen angesichts der riesigen Aufgabe, die sie erwartete, der Verzweiflung nahe. Sie drohten in Apathie zu verfallen, doch gelang es den Propheten Haggai und Sacharja, ihnen vor Augen zu führen, daß ihre Arbeit belohnt werde. So machten sich die Juden an den Wiederaufbau und weihten 516 v. Chr. den zweiten Tempel ein. Dieses Datum gilt daher nach jüdischer Auffassung auch als eigentliches Ende des Babylonischen Exils, das insgesamt 70 Jahre, von 586 bis 516 v. Chr., dauerte.

Der jüdische Hohepriester übernahm die Regierung über die Provinz Juda oder Judäa, die von nun an den Status einer Theokratie innehatte. Die Konsolidierung des Landes ging nur langsam vonstatten. 445 v. Chr. betraute man daher Nehemia, einen jüdischen Günstling des persischen Königs Artaxerxes I. (Regierungszeit 465-425 v. Chr.), mit den Aufbauarbeiten. Unter seiner Leitung erblühte Jerusalem wieder zu einer bedeutenden Metropole. Zeitgleich entsandte der Überlieferung zufolge die babylonische Gemeinde, die von der mangelnden religiösen Begeisterung der Juden gehört hatte, den berühmten Schriftgelehrten Esra nach Judäa, um auch religiöse Reformen in Angriff zu nehmen. Da die Person von Artaxerxes im Buch Esra nicht notwendig mit jener zur Zeit des Nehemia übereinstimmt, könnte der Prophet jedoch auch 398 oder 397 v. Chr. nach Judäa zurückgereist sein. Mitte des 4. Jahrhunderts hatte sich Judäa in einen gut organisierten Staat verwandelt, in dem eine mächtige Priesterschaft die wesentlichen Glaubensinhalte festlegte und kontrollierte. Die Gesetzesbücher der Thora regelten jeden Aspekt des jüdischen Lebens, und die Schrift- oder Rechtsgelehrten gaben den Texten ihre endgültige Form. Zugleich wuchs der Wohlstand. In nur 150 Jahren hatten sich die Juden den verschiedensten Gegebenheiten angepaßt und sich dabei von einer politischen Einheit zu einem religiös motivierten Volk gewandelt.

 

Die Diaspora

 

Im ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. stieg Mazedonien unter Alexander dem Großen zu einer bedeutenden Macht auf. Nach der Unterwerfung Persiens 331 v. Chr. gehörte Judäa zu den Provinzen Alexanders. Der Überlieferung zufolge schenkte Alexander den Juden seine besondere Aufmerksamkeit. Tausende von ihnen siedelten sich nach der Gründung von Alexandria in Ägypten an. Als die Handelsverbindungen innerhalb des riesigen Reiches zunahmen, ließen sich viele Juden an den Ufern des Schwarzen Meeres, auf den griechischen Inseln und an den Mittelmeerküsten nieder. Die Abwanderungstendenzen nahmen so starke Ausmaße an, daß man die neuen Gemeinden als Diaspora (griechisch diaspora: Zerstreuung) bezeichnete. Weit entfernt von den Zentren des jüdischen Lebens in Judäa setzte sich bei den Emigranten die griechische gegenüber der hebräischen Sprache durch, und die Einwanderer übernahmen griechische Sitten und Vorstellungen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde der Pentateuch ins Griechische übersetzt. Diese Septuaginta, die später auch die anderen Teile der hebräischen Bibel umfaßte, bildete nun die religiöse Grundlage der Diasporajuden. Der Hellenismus, die griechische Lebensart und Kultur, gewann ebenfalls mehr und mehr an Einfluß.

Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. bedrohten die Griechen das Judentum politisch und kulturell. Alexanders Generäle teilten das Reich untereinander auf, und der ägyptische König Ptolemäus I. marschierte in Judäa ein. Als Handelsroute nach Arabien besaß das jüdische Gebiet strategische Bedeutung und geriet daher zum Streitobjekt zwischen Ägypten und den in Syrien herrschenden Seleukiden. 198 v. Chr. siegte Antiochus I. von Syrien in der Schlacht bei Paneas über Ägypten und verleibte Judäa seinem Reich ein. Die seleukidischen Könige versuchten nun mit aller Macht, das Judentum durch den Hellenismus zu ersetzen. Ihren Höhepunkt erreichte die Hellenisierung unter Antiochus IV., der den jüdischen Glauben 168 v. Chr. für gesetzeswidrig erklärte und den Altar Jahwes im Tempel von Jerusalem dem Zeus weihte.

 

Die Zeit der Hasmonäer

Die Juden beantworteten die Entweihung ihres Heiligtums im gleichen Jahr mit einem Aufstand, angeführt von dem jüdischen Priester Mattathias und seinen Söhnen, den Makkabäern. Nach einem erbitterten Kampf schlugen die jüdischen Truppen das syrische Heer. Die Dynastie der Hasmonäer oder Makkabäer übernahm die Regierung und ernannte sich zu Königen des unabhängigen jüdischen Staates.

Unter den Hasmonäern konzentrierten sich die Juden darauf, ihren Glauben von fremden Einflüssen zu befreien. Die Ansichten der beiden wichtigsten neu entstandenen Fraktionen, der Sadduzäer und der Pharisäer, unterschieden sich sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht grundlegend voneinander. Daneben gab es noch die Essener, ein mönchsartiger Orden. Die Hasmonäer richteten das Synedrium ein, einen aus 71 hochrangigen Persönlichkeiten bestehenden Obersten Gerichtshof, der über zivilrechtliche und religiöse Fragen entschied. Das Königreich dehnte sich aus und umfaßte unter Johannes I. Hyrkan auch Samaria und Edom, das zu dieser Zeit Idumäa genannt wurde. Ihre Bewohner wurden dazu gezwungen, das Judentum anzunehmen.

Auch in der hasmonäischen Zeit kam es zu größeren inneren Konflikten. Im letzten Jahrhundert v. Chr. brach ein Streit zwischen den Brüdern Hyrkan II. und Aristobul II. aus, die beide Anspruch auf den Thron erhoben. Antipater, ein Idumäer, der Hyrkan zu unterstützen schien, nutzte die Auseinandersetzung für seine Zwecke und verbündete sich mit dem römischen General Pompeius. Dieser marschierte 62 v. Chr. in Jerusalem ein, und ab 47 v. Chr. übernahm Antipater das Amt des Prokurators für die Provinz Judäa, die fortan direkt Rom unterstellt war. Antipaters Sohn, Herodes der Große, bestieg den Thron 37 v. Chr.

 

Die Entstehung des Christentums

 

Religiöse und politische Aufstände prägten das letzte Jahrhundert des alten jüdischen Staates. Zu Beginn des christlichen Zeitalters umfaßte die gesamte jüdische Bevölkerung in der Alten Welt rund acht Millionen Menschen, die, von Judäa abgesehen, vor allem in Alexandria, Nordafrika, Babylon, Antiochien, Ephesus und Rom lebten. Neben dem Einfluß des Hellenismus war es diese breite Streuung, die verschiedene antijüdische Bewegungen hervorbrachte. Eine von ihnen richtete sich gegen alle Juden und zielte insbesondere auf die jüdische Handelstätigkeit, die religiösen Unterschiede und die politischen Privilegien, die viele Juden in hohen Ämtern für sich in Anspruch nahmen. Eine zweite Gruppierung entwickelte sich aus dem Judentum selbst, das Christentum. Die Zahl der hellenistischen Juden, die Jesus (hebräisch Yeshua oder Josua) für den verheißenen Messias hielten, überstieg bei weitem die der hebräischen Juden, die sich zu Jesus bekannten. Auch zahlreiche Heiden bekehrten sich zum neuen Glauben, als die Jünger Jesu in der Alten Welt zu missionieren begannen. Das Christentum galt zunächst als jüdische Sekte, doch als zunehmend Heidenchristen hinzukamen, konzentrierte sich ihr Glaube immer stärker auf die Person und das Wirken Jesu. Die Judenchristen blieben dagegen den wesentlichen jüdischen Inhalten und Vorschriften treu. Als Antwort auf diese Bedrohungen faßten die Juden ihre Gebote noch strenger und erlaubten keinerlei Abweichung von der Tradition.

 

Der große Aufstand

 

Im 1. Jahrhundert n. Chr. mündeten die religiösen Konflikte in blutige Kämpfe. Die römischen Herrscher über Judäa regierten als Despoten und achteten die jüdische Religion gering. 66 n. Chr. führten die Zeloten einen Aufstand gegen Rom. Kaiser Nero entsandte den römischen General und späteren Kaiser Vespasian, der die Revolte zwischen 70 und 73 n. Chr. niederschlug und Jerusalem mitsamt dem Tempel zerstörte. Als letzte Bastion fiel Masada im Jahr 73 n. Chr.

Formell existierte Judäa auch weiterhin. Das Zentrum der jüdischen Lehre verlagerte sich unter der Leitung des großen Weisen Jochanan ben Zakkai nach Jabne (Jamnia, heute Yavne, Israel). In der nächsten Generation bleib es in Judäa aufgrund der strikten römischen Kontrolle weitgehend friedlich. Dann ordnete Kaiser Hadrian den Wiederaufbau Jerusalems als Stadt an, die zu Ehren Jupiters den Namen Aelia Capitolina tragen sollte, und erließ ein Edikt, das die Beschneidung verbot.

 

Bar Kochba

Als Reaktion auf die Demütigung der Juden kam es in Judäa unter Simon Bar Kochba zu einem gewaltsamen Aufstand. Von 132 bis 135 wehrten sich die Juden erfolglos gegen die römische Besatzungsmacht, die jedoch ihre Vorherrschaft halten konnte. Auf Anordnung des Kaisers wurde die Provinz in Syrien-Palästina umbenannt. In Jerusalem wurden römische Kulte eingeführt, und jeder Jude, der sich zu seinem Glauben bekannte, wurde mit dem Tod bestraft.

Der Fall Judäas vergrößerte die Kluft zwischen Juden und Christen. Die Juden betrachteten den Verlust als Katastrophe, während die Christen ihn als Zeichen Gottes werteten, der sich vom jüdischen Volk losgesagt habe, und sich nun als die wahren Träger der Gnade sahen. In den ersten drei Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung gewann das Christentum zunehmend an Bedeutung. Nachdem Kaiser Konstantin der Große den neuen Glauben 313 zur Staatsreligion erklärt hatte, wuchs die feindliche Gesinnung gegenüber den Juden, die sich fortan immer wieder Verfolgungen ausgesetzt sahen.

 

Die Juden nach dem Exil

 

Trotz der Zerstörung des zweiten jüdischen Staates und der zunehmend antijüdisch gesinnten Umwelt vermochten die Juden ihre Identität und ihre Traditionen im Zuge eines tiefgreifenden kulturellen Wandels zu bewahren.

 

Die religiöse Entwicklung im Exil

Als Antwort auf den Bruch, den die Entstehung des Christentums bewirkte, entwickelte sich das Judentum zu seiner bleibenden Form. Die Kontinuität beruhte auf der gemeinsamen Sprache, einem literarischen Erbe, das Bestandteil der jüdischen Erziehung wurde, auf einem klar strukturierten Gemeindeleben mit festem Zusammenhalt und der stetigen Hoffnung auf zukünftige Erlösung.

Während der ersten sechs Jahrhunderte des Exils verfaßten die Rabbiner und Schriftgelehrten mit der Mischna und der Gemara den großen Korpus der mündlichen Gesetze und religiösen Auslegungen, den Talmud. Unter der Herrschaft der Parther, ab 227 dann unter der der Sassaniden oder Neuperser, entwickelten sich Akademien in Palästina, vor allem in Galiläa und Babylonien, zu den wichtigsten Zentren der jüdischen Glaubenslehre. Bereits seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. gab es in Babylonien eine bedeutende jüdische Gemeinde, die nun einen immer stärkeren Einfluß auf die im Exil lebenden Juden ausübte. Ein Exilarch stand der babylonischen Kolonie als Oberhaupt vor. Die beiden dortigen Studienstätten in Sura und Pumbedita genossen unter den Juden hohes Ansehen. Die Lehrer, die im 1. und 2. Jahrhundert an der Kodifizierung und Erweiterung der Mischna arbeiteten, hießen Tannaiten (von aramäisch: lehren). Auf sie folgten im 3. Jahrhundert die Amoräer (aramäisch: Sprecher), die sich mit der Gemara befaßten und im 5. Jahrhundert von den Saboräern (aramäisch: nachdenken) abgelöst wurden. Mit der Komplettierung der Gemara, die den Kommentar zur Mischna bildete, erhielt der Talmud zu Beginn des 6. Jahrhunderts seine endgültige Fassung. Der unvollständigere palästinische oder Jerusalemer Talmud erhielt seine heutige Gestalt bereits ein Jahrhundert früher. Die führenden Vertreter der babylonischen Schulen nannten sich Gaonen (Plural des hebräischen Wortes gaon: Vorzüglichkeit). Ihre Antworten zu Fragen des Glaubens wurden zum Teil in die religiöse Praxis aufgenommen.

 

Islamische Toleranz

Der aufkommende Islam stellte für die jüdischen Gemeinden Babyloniens keine größere Bedrohung dar. 637 eroberten die Muslime Mesopotamien und erhoben den Islam zur Staatsreligion. Der Kodex Omar, den Kalif Omar I. verkündete, erlegte den Juden eine Reihe formeller Beschränkungen auf. So durften sie keine politischen Ämter bekleiden und keine Muslime als Dienstboten beschäftigen. Auch war es ihnen verboten, Waffen zu tragen, Synagogen zu bauen und Gottesdienste mit lauter Stimme abzuhalten. Darüber hinaus mußten sie als Erkennungszeichen gelbe Flicken an ihren Ärmeln tragen. Die Kalifen von Bagdad fühlten sich indes nicht an das Gesetz gebunden und gestatteten den Juden, ihre Autonomie weitgehend zu bewahren.

Diese Phase der islamischen Toleranz zeichnete sich durch eine gute Kooperation zwischen Muslimen und Juden aus und begünstigte die Entwicklung einer auf griechischen, muslimischen und jüdischen Elementen basierenden Kultur zu einer Zeit, da in Europa noch das finsterste Mittelalter herrschte.

 

Die Juden im mittelalterlichen Europa

Mitte des 10. Jahrhunderts verlagerte sich das Zentrum der weltlichen und religiösen jüdischen Lehre von Mesopotamien ins maurische Spanien. Schon vor der Expansion des Römischen Reiches hatte es hier jüdische Kolonien gegeben. Diese sahen sich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt, insbesondere nachdem die Westgotenkönige sich im 6. Jahrhundert zum Christentum bekehrt hatten. Der Eroberungszug der Muslime bedeutete für die Juden eine Zeit des Friedens. Sie bekleideten nun wichtige Ämter als Staatsmänner, Ärzte, Bankiers und Gelehrte.

Die Epoche des Friedens endete Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Macht der Muslime auf der Iberischen Halbinsel schwand. Unter den katholischen Königen erwartete die Juden das Schicksal ihrer Glaubensbrüder und -schwestern im übrigen Europa. Im gesamten Mittelalter waren Judenverfolgungen in christlichen Ländern an der Tagesordnung. Während der Kreuzzüge wurden Tausende von Juden zum Opfer der ausziehenden Kämpfer. 1215 berief Papst Innozenz III. das 4. Laterankonzil ein, das eine an den Kodex Omar erinnernde Restriktionspolitik den Juden gegenüber verkündete und sie zwang, sich öffentlich kenntlich zu machen. In ganz Europa grenzte man die Juden aus. In den Städten mußten sie fortan in Ghettos leben und durften sich nicht mehr frei bewegen. Im 13. und 14. Jahrhundert füllten die europäischen Könige ihre Schatzkammern mit konfisziertem jüdischen Eigentum, dessen rechtmäßige Besitzer sie vertrieben. 1290 enteignete König Edward I. von England die Juden und verwies sie des Landes.

1394 folgte Karl VI. von Frankreich seinem Beispiel. Als im 14. Jahrhundert der Schwarze Tod in Europa wütete, mußten abermals zahlreiche Juden sterben, weil die Christen sie für die Urheber der Seuche hielten. In Spanien führten die von der Kirche ausgehenden Verfolgungen dazu, daß die Juden scharenweise konvertierten, um ihr Leben zu retten. In vielen Fällen waren diese Bekehrungen rein äußerlich, insbesondere bei den Marranen; die sich zwar zum Katholizismus bekannten, insgeheim aber weiter ihrem früheren Glauben anhingen. Ab 1478 verfolgte die spanische Inquisition diese Gruppe, und 1492 wurden alle Juden aus dem Land vertrieben. 1497 folgte die Ausweisung aus Portugal.

Die Emigranten aus Westeuropa fanden im östlichen Teil des Kontinents Zuflucht. Tausende von spanischen Juden flohen in die europäische Türkei, wo zu der Zeit eine Politik der islamischen Toleranz herrschte. Im 16. Jahrhundert befand sich die größte jüdische Gemeinde Europas in Konstantinopel. Die meisten Juden, die in England, Frankreich, Deutschland und der Schweiz verfolgt wurden, ließen sich in Polen und Rußland nieder. Um 1648 betrug ihre Zahl in Polen über 500 000, die innerhalb des Königreiches ihre Autonomie bewahrten und das Land zu einem Zentrum des jüdischen Lebens machten. Zwischen 1648 und 1658 kam es zu Verfolgungen in der Ukraine, die nach dem Aufstand des Kosakenführers Chjelmnizki (um 1595-1657) einsetzten. Als auch jüdische Gemeinden in Polen zerstört wurden, war das jüdische Volk auch im osteuropäischen Raum in seiner Existenz bedroht. Von nun an durften die Juden eine Vielzahl von Berufen nicht mehr ausüben. Handwerk, Landwirtschaft und Handel in großem Umfang blieb ihnen verschlossen, so daß sie sich auf den Kleinhandel beschränken mußten.

 

Die Juden in der Neuzeit

Ende des 16. Jahrhunderts existierten nur noch Überreste der alten jüdischen Gemeinden in Westeuropa.

 

Reformation und Französische Revolution

Als nach der protestantischen Reformation die politische und soziale Freiheit allmählich zunahm, wuchs auch die Toleranz gegenüber den Juden. Erste Anzeichen gab es in England, wo der Commonwealth unter Oliver Cromwell den Juden ab 1650 die Einwanderung anbot. Einflußreiche Männer wie der Philosoph John Locke und der Missionar Roger Williams luden sie auch ein, sich in den englischen Kolonien Nordamerikas niederzulassen. In Frankreich verlieh die Nationalversammlung den Juden im Rahmen der Demokratisierung nach der Französischen Revolution 1791 das Wahlrecht. Nach 1815 verschärfte sich die Situation allerdings wieder, weil die Staaten, die Napoleon unterworfen hatte, die von ihm eingeführten Neuerungen rückgängig machten, um dem Liberalismus einen Riegel vorzuschieben. Dieser Rückwärtstrend hielt indes nur wenige Jahrzehnte an, und um 1860 waren die Juden in ganz Westeuropa vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.

 

Osteuropäische Politik

In Osteuropa kehrte sich zur gleichen Zeit die Toleranzpolitik gegenüber den Juden um. Rußland und Polen ließen die Juden verfolgen, um liberalen Tendenzen keinen Vorschub zu leisten. Die Lage der Juden gestaltete sich nun ähnlich wie im mittelalterlichen Europa, insbesondere nach der Teilung Polens, dessen Osthälfte zwischen 1772 und 1796 zum Russischen Reich gehörte. Die meisten polnischen Juden lebten in dem Gebiet, das nun zu Rußland zählte und mußten harte Restriktionen erdulden. Sie durften nur in abgegrenzten Ghettos leben und konnten zahlreiche Bildungs- und Berufswege nicht mehr einschlagen. Darüber hinaus gestattete und finanzierte die zaristische Regierung in Abständen Massaker an den Juden. Diese Pogrome sollten die Aufmerksamkeit der russischen Bevölkerung von ihrer Unzufriedenheit mit dem Feudalsystem ablenken, das bis ins ausgehende 19. Jahrhundert fortbestand. Das Regime ergriff noch weitere Maßnahmen, indem es die Juden zu isolieren und jede Form der politischen Einflußnahme zu unterbinden versuchte. Vor allem befürchtete man, die Juden könnten aufrührerische Ideen aus Westeuropa nach Rußland tragen. Die Verfolgungen dauerten bis zum Beginn der Russischen Revolution 1917. Zwischen 1890 und dem Ende des 1. Weltkrieges emigrierten als Folge der Pogrome rund zwei Millionen Juden aus Rußland in die Vereinigten Staaten. Andere Kolonien ehemaliger osteuropäischer Juden entstanden in Kanada, Südamerika (insbesondere Argentinien) sowie in Palästina.

 

Die Juden in der westlichen Hemisphäre

Die jüdische Emigration in die westliche Welt begann direkt nach Gründung der ersten amerikanischen Kolonien. Zahlreiche Sefarden spanischer oder portugiesischer Abstammung ließen sich zunächst in Brasilien nieder, doch war nur Marranen der Aufenthalt erlaubt, und die Verfolgung durch die Inquisition führte dazu, daß die Juden das Land wieder verließen. 1654 gründeten die ersten brasilianischen Marranen eine Gemeinde in der niederländischen Kolonie Neuamsterdam (heute New York City), wo sie sich offen zu ihrem Glauben bekennen konnten. Zur Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitskriege, um 1780, belief sich die Zahl der in den Vereinigten Staaten lebenden Juden auf schätzungsweise 2 000. Die Immigranten des 19. Jahrhunderts kamen zum größten Teil aus Deutschland, nach 1815 als Konsequenz der antijüdischen Stimmung, die auf das Ende der Napoleonischen Ära folgte, und nach den Revolutionen von 1848 einsetzte. Um 1880 gab es in den USA annähernd 250 000 Juden. Während der nächsten vierzig Jahre reisten nochmals drei Millionen Juden ein, vor allem aus Osteuropa. Der große Strom versiegte erst 1924 mit der Einführung der Einwanderungsbeschränkungen.

 

 

Das Leben in Europa

Die Gleichstellung der Juden hatte religiöse, kulturelle und politische Auswirkungen. Allmählich nahmen die Juden den ihnen zustehenden Platz in der modernen Welt ein, und die Mauer, die das orthodoxe Judentum als Schutz gegen äußere Einflüsse oder Bedrohungen errichtet hatte, geriet ins Wanken. Einen besonders starken Einfluß übte Moses Mendelssohn aus, der die Grundsätze des Judentums, sowohl im religiösen als auch im profanen Bereich, bekannt machte. Er übersetzte den Pentateuch ins Deutsche und wies auf die Bedeutung der kulturellen Verbindungen zwischen den Juden und ihrer andersgläubigen Umwelt hin. Damit öffnete er den Weg für die vielfältigen Beiträge, die Juden fortan innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften und in der übrigen Welt leisten sollten. Das in Deutschland entstandene Reformjudentum berief sich ebenfalls auf die Lehren Mendelssohns. In jener Zeit wandten sich viele jüdische Familien ganz von ihrem Glauben ab und traten zum Christentum über, um ihre Möglichkeiten auf kulturellem und öffentlichem Gebiet zu vergrößern. Zu jener Gruppe gehörte Mendelssohns Enkel, der berühmte Komponist Felix Mendelssohn. Auch einer der größten deutschen Dichter, Heinrich Heine, war jüdischer Abstammung und behielt seine Liebe zum Judentum bei, obgleich er sich zum Christentum bekehrte. Der britische Staatsmann Benjamin Disraeli war ebenfalls ein Sohn konvertierter Juden.

Zu den bedeutenden Juden, die – in allen westeuropäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten – auf ihren Gebieten die Welt voranbrachten, zählten Karl Marx, der Urvater des Sozialismus und Kommunismus, und Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse. In Frankreich und Deutschland verfaßten Henri Bergson sowie Hermann Cohen und Martin Buber bedeutende philosophische Werke. Jüdische Maler wie Amedeo Modigliani aus Italien, Camille Pissarro (von portugiesisch-französischer Herkunft) und der in Rußland geborene Marc Chagall sowie die Bildhauer Jakob Epstein aus den USA und Jacques Lipchitz aus Litauen erwarben sich ein internationales Renommee. Albert Einsteins Relativitätslehre revolutionierte die Theorie der Physik und Mathematik. Die jüdische Gemeinde selbst erlebte im 19. Jahrhundert eine kulturelle Renaissance. Die Haskala ("Erleuchtung") begann in Osteuropa. Die Juden schrieben verstärkt Texte in hebräischer Sprache und studierten die Lehren von Darwin oder Thomas Huxley. Gedichte, Romane und Geschichtsbücher entstanden, und das Hebräische entwickelte sich allmählich wieder zur lebenden Sprache. Das osteuropäische Jiddisch erfuhr eine Aufwertung, nachdem Autoren wie Mendele Moscher Setorim, Schalom Aleichem, Juda Leb Peretz und Schalom Asch es in ihren Werken verwendet hatten. Die spezifisch jüdische Kulturerneuerung der Haskala weckte durch die intensive Beschäftigung mit dem jüdischen Erbe neue Hoffnungen auf eine Heimkehr nach Palästina.

 

Der Antisemitismus

Die weltpolitischen Ereignisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts gaben den durch die Haskala ausgelösten Erwartungen neue Nahrung. In Deutschland und Frankreich fand die antijüdische Gesinnung erneut Anhänger. Der Antisemitismus lehnte jedoch nicht in erster Linie die Religion, sondern die angeblichen Rassenmerkmale der zu den Semitenvölkern gehörenden Juden ab. In Deutschland, Frankreich, Österreich und Ungarn schlossen sich politische Gruppen zusammen, um die Juden von hochrangigen Positionen auszuschließen. In Frankreich erreichte der Antisemitismus mit der Dreyfus-Affäre ihren vorläufigen Höhepunkt. Diese begann mit der auf falschen Zeugnissen beruhenden Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus. Einer der Beobachter des Verfahrens, der österreichische Schriftsteller Theodor Herzl, gelangte zu der Überzeugung, daß nur ein jüdischer Nationalstaat das Problem des Antisemitismus dauerhaft lösen könne. 1896 begründete Herzl den Zionismus, eine politische und soziale Bewegung, die das Ziel hatte, einen eigenen jüdischen Staates zu schaffen.

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders in den Zwischenkriegsjahren nahm der Antisemitismus in der europäischen Politik, vor allem in Deutschland, stark zu. Der Nationalsozialismus, der in den zwanziger und dreißiger Jahren aufkam, war antisemitisch und richtete sich gegen alle Juden, auch jene, die sich selbst nicht mehr als Juden betrachteten, sondern sich als assimilierte Mitglieder verschiedener nationaler Gruppen fühlten. Die Nationalsozialisten ermordeten in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft rund sechs Millionen Juden. Die meisten von ihnen kamen in Konzentrationslagern in Deutschland oder in von Deutschen besetzten Gebieten ums Leben. Die Zeit der Verfolgung und systematischen Vernichtung europäischer Juden ging unter dem Namen Holocaust in die Geschichte ein.

 

Antisemitismus, ein im 19. Jahrhundert entstandener Begriff, der die Feindseligkeit gegen Juden bezeichnet. Dabei richtet sich diese gegen Menschen jüdischer Herkunft, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht. Als Semiten wurden ursprünglich alle Nachfahren Sems, des ältesten Sohnes des biblischen Patriarchen Noah, bezeichnet. Damit bezieht sich dieser Ausdruck auf eine Gruppe von Völkern des Nahen Ostens, zu der Juden und Araber gleichermaßen gehören. Später wandelte sich der Sprachgebrauch, und ausschließlich die Juden wurden Semiten genannt. Der Begriff Antisemitismus wurde 1879 von Wilhelm Marr geprägt, der mit zu seiner Verbreitung beitrug. Zur Rechtfertigung dieser Feindseligkeit wurden rassistische Theorien herangezogen, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich, England und Deutschland entwickelt hatten. Diesen Theorien zufolge sollten "arische" (Sanskrit arisch: edel) Völker den semitischen Völkern körperlich und charakterlich überlegen sein. Die Nationalsozialisten bezeichneten mit "arisch" später weiße nichtjüdische Völker. Obwohl kein ernstzunehmender Ethnologe diese "Theorie" akzeptieren konnte, wurden die Bücher des französischen Diplomaten und Sozialphilosophen Comte Joseph Arthur de Gobineau und des deutschen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlers Karl Dühring, in denen antisemitische Auffassungen vertreten wurden, viel gelesen. Die nationalsozialistische Rassentheorie führte in Deutschland zur systematischen Verfolgung der Juden und zum Holocaust.

Zur Erklärung des Phänomens Antisemitismus gibt es viele Theorien. Heute sind sich die Sozialwissenschaftler weitgehend einig, daß der Antisemitimus, wie der Rassismus überhaupt, verstärkt in Zeiten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krisen und Instabilität aufkommt. Dies war in Deutschland in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg der Fall. Dieser Theorie zufolge werden die Unzufriedenheit weiter Teile der Gesellschaft sowie Aggressionen und Frustrationen, die diese Krisenzeiten mit sich bringen, an Sündenböcken ausgelassen. So sind in der Geschichte die Juden häufig zu Sündenböcken abgestempelt und zur Zielscheibe gesellschaftlicher Agression geworden.

 

Verfolgung in Westeuropa

 

Antijüdische Hetze hat es bereits in der Antike gegeben. Im Römischen Reich lieferte beispielsweise das Festhalten der Juden an ihrem Glauben und ihrem Gottesdienst einen Vorwand für ihre politische Diskriminierung. Nur sehr wenige Juden durften römische Bürger werden. Spätestens seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert wurden die Juden von den Christen als die Mörder Jesu Christi angesehen. Mit dem Aufstieg und schließlich der Herrschaft des Christentums im ganzen Abendland verbreitete sich auch die religiös begründete Diskriminierung der Juden. So wurden während der Kreuzzüge eine große Zahl von Juden umgebracht. Sie wurden in Ghettos verbannt, mußten Kennzeichen oder Kleidung tragen, an denen man sie als Juden erkennen konnte. Wirtschaftliche Beschränkungen führten dazu, daß sie sozial und ökonomisch benachteiligt waren. Im 18. und 19. Jahrhundert trugen die Französische Revolution, das Zeitalter der Aufklärung, die sich allmählich durchsetzende Trennung von Kirche und Staat und die Entwicklung der modernen Nationalstaaten dazu bei, daß die religiöse und wirtschaftliche Verfolgung der Juden abnahm. Dies führte dazu, daß sich die Juden stärker in die wirtschaftliche und politische Ordnung integrierten. Die Akzeptanz der Juden durch nichtjüdische Mehrheiten war jedoch nur oberflächlich und hing meist von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage ab.

Mit der Gründung des Kaiserreiches 1871 war in Deutschland der Prozeß der Assimilation abgeschlossen. Die religiös begründete Diskriminierung war aufgrund geänderter Gesetze strafbar, wobei jedoch die rassistisch motivierte Feindseligkeit zunahm. Die biologisch-deterministischen Rassenlehren, die im 19. Jahrhundert aufgekommen waren, bildeten nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges und während der Wirtschaftskrise des Jahres 1873 die Grundlage für die Bildung antisemitischer politischer Parteien. Bis 1933 gab es dann in Deutschland mehrere politische Parteien, die offen antisemitisch agitierten. Danach wurde der Antisemitismus unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zur offiziellen Regierungspolitik.

Auch in anderen Ländern West- und Mitteleuropas entstanden antisemitische Strömungen. So war der Antisemitismus ein Programmpunkt der christlich-sozialen Partei Österreichs. In Frankreich hing der Antisemitismus mit dem umfassenderen Problem der Trennung von Kirche und Staat zusammen. Klerikale und royalistische Gruppen vertraten eine antisemitische Haltung, die auf Rassentheorien aufbaute. Diese Auffassungen wurden in zahlreichen antisemitischen Schriften verbreitet, insbesondere in der Zeitung La libre parole, die der französische antisemitische Journalist und Schriftsteller Edouard Drumont 1892 gegründet hatte. Der französische Antisemitismus fand seinen Höhepunkt in der Dreyfus-Affäre zwischen 1894 und 1906, in der ein jüdischer Offizier der französischen Armee zu Unrecht wegen Verrats zu Gefängnis verurteilt wurde. Nach Dreyfus’ Freilassung nahm jedoch der Antisemitismus in der französischen Politik ab.

 

Verfolgung in Osteuropa: Pogrome

Im Mittelalter waren die osteuropäischen Juden traditionell ökonomisch und sozial isoliert. Im Gegensatz zur Assimilation der Juden in Westeuropa wurde die Isolation der Juden in Osteuropa nie aufgebrochen. Vielmehr waren die Juden seit dem Mittelalter zunehmenden Repressalien ausgesetzt. In Rußland wurden Maßnahmen beschlossen, Juden keinen Landbesitz zuzugestehen und die Anzahl der Juden an Universitäten auf drei bis zehn Prozent aller Studierenden zu begrenzen.

Die Judenverfolgung in Osteuropa war mit Plünderungen und Morden verbunden und gipfelte in Pogrome, die 1881 einsetzten. Eine der schlimmsten Ausschreitungen fand 1906 in Rußland nach der gescheiterten Revolution von 1905 statt. In über 600 Dörfern und Städten wurden Tausende von Juden niedergemetzelt und ihre Häuser geplündert und zerstört. Die Pogrome resultierten zum größten Teil aus einer Regierungspolitik, die darauf abzielte, die Unzufriedenheit der russischen Arbeiter und Bauern auf einen religiösen Gegner umzulenken. Zu diesem Zweck wurde eine bisher unbekannte Massenpropaganda eingesetzt. Teil dieser Propaganda war die gefälschte Publikation der Protokolle der Weisen von Zion, die angeblich eine jüdische Weltverschwörung enthielt, die das Ziel hatte, die Weltherrschaft der Erde an sich zu reißen. Diese "Protokolle" wurden 1905 in Rußland veröffentlicht und verbreitet. Sie enthielten Materialien, die sich eindeutig auf einen erfundenen Text zurückführen lassen. Solche vorsätzlichen Fälschungen spielten auch bei dem Pogrom nach der russischen Revolution von 1917 eine Rolle, das Hunderttausende von Opfern forderte.

 

Organisierter Antisemitismus als Mittel der Politik

Zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg waren antisemitische Einstellungen international verbreitet. Im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre wurde, nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, der Antisemitismus zur politischen Ideologie.

Der Inhalt der nationalsozialistischen Propaganda war vielfältig. Sie griff die Rassenlehre auf und machte sich den alten religiösen Haß zunutze. Sie identifizierte die Juden mit dem Kapitalismus und machte sie gleichzeitig für die Ausbreitung des Kommunismus in Deutschland und anderen Ländern verantwortlich.

Diese systematische Verfolgung der Juden wie auch der Homosexuellen und körperlich oder geistig Behinderten war Teil des nationalsozialistischen Programms der Eugenik, das in der Vernichtung sogenannten "lebensunwerten Lebens" bestand. Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden besondere Gesetze erlassen, die den Juden eine mindere Rechtsstellung zuwiesen und durch die ihr Besitz beschlagnahmt wurde. Ausschreitungen gegen jüdische Personen und Einrichtungen gipfelten im November 1938 in der Reichskristallnacht. Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde die organisierte Judenverfolgung auf die von Deutschland besetzten Gebiete ausgeweitet. Die "Endlösung der Judenfrage" bedeutete in Deutschland die gnadenlose Vernichtung des jüdischen Volkes, ein Verbrechen, das im internationalen Recht heute als Völkermord verurteilt wird. Bis zum Ende des Krieges wurden rund sechs Millionen Juden, zwei Drittel der jüdischen Einwohner Europas, in Konzentrationslagern, durch Massaker und systematische Exekutionen ermordet. Opfer der nationalsozialistischen Politik waren neben den Juden Homosexuelle, Demokraten, Kommunisten, Sinti und Roma sowie andere ethnische Gruppen.

Als nach dem Krieg das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekannt wurde, löste dies heftige Reaktionen aus. Diese führten u. a. zur Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Bei den Nürnberger Prozessen wurden 1945 viele führende Nationalsozialisten aufgrund von Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Auch danach gab es in der Bundesrepublik Prozesse gegen Kriegsverbrecher, insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Bundesrepublik leistete Wiedergutmachungszahlungen für Besitz und Immobilien, die den Juden genommen worden waren sowie Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Auch in der ehemaligen DDR fanden Kriegsverbrecherprozesse statt, wobei einige Todesurteile ausgesprochen wurden. Die DDR lehnte es jedoch ab, Wiedergutmachungszahlungen zu leisten, da sie sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches verstand. Zwar ist die offizielle Haltung im wiedervereinigten Deutschland strikt gegen den Antisemitismus gerichtet, jedoch waren auch im Nachkriegsdeutschland Gewalt und Feindseligkeit gegen Juden zu registrieren. Diese reichen von antisemitischen Äußerungen bis hin zu Ausschreitungen, die antisemitisch motiviert sind. In den anderen westlichen Demokratien hat das abschreckende Beispiel der nationalsozialistischen Politik der Judenvernichtung dazu geführt, daß der Antisemitismus in der Nachkriegszeit abnahm. In den neunziger Jahren sind jedoch in Großbritannien, Frankreich und anderen europäischen Ländern und den USA kleinere reaktionäre und rassistische Parteien und Gruppen entstanden, die ein militantes Potential darstellen.

 

Antisemitismus nach dem 2. Weltkrieg

Auch nach dem 2. Weltkrieg waren jüdische Einrichtungen immer wieder das Ziel von antisemitischen Angriffen. So wurden Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Gräber geschändet. Vorwiegend waren kleine neonazistische Gruppen für antisemitische Propaganda gegen Juden verantwortlich. Seit Ende der sechziger bis in die neunziger Jahre kam in den Vereinigten Staaten eine neue Phase des Antisemitismus auf, bei der es zu Feindseligkeiten zwischen Schwarzen und Juden kam, die zu Zusammenstößen führten. Die Kirchen haben im allgemeinen auf die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime reagiert und bemühen sich, die religiösen Begründungen der Vorurteile zu beseitigen. Die christlich-jüdische Zusammenarbeit wurde in der Nachkriegszeit stark ausgeweitet. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) sprach die römisch-katholische Kirche die Juden in aller Form von der Anklage frei, für den Tod Jesu Christi Verantwortung zu tragen, und verurteilte Völkermord und Rassismus als unchristlich.

Viele alte Nationalsozialisten hatten sich nach dem 2. Weltkrieg nach Lateinamerika geflüchtet. 1960 nahm der israelische Geheimdienst den nationalsozialistischen Kriegsverbrecher Adolf Eichmann fest und brachte ihn nach Israel. Eichmann wurde anschließend in Jerusalem wegen Verbrechen gegen die Juden vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.

Im Nahen Osten, wo mehrere semitische Völker beheimatet sind, entwickelte sich nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 im Zusammenhang mit einem erstarkenden Antizionismus (siehe Zionismus) eine neue Form der antijüdischen Haltung. 1948 führte die Gründung des Staates Israel zu Konflikten mit den arabischen Einwohnern, den Palästinensern. Sie fühlten sich durch den israelischen Staat in ihrer Existenz bedroht, denn dieser beanspruchte das Land, in dem sie geboren waren, für sich. Viele Palästinenser wurden vertrieben, was bei den Mitgliedern der Arabischen Liga auf entschiedenen Widerstand stieß. In den folgenden Jahren kam es zu verschiedenen Grenzzwischenfällen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, die in den Jahren 1948 bis 1949, 1956, 1967, 1973 und 1982 zu Kriegen führten. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (Palestine Liberation Organization, PLO), die im Mai 1964 gegründet worden war, führte in Israel und in anderen Ländern Guerillaaktionen gegen Israel durch. Die Staaten der Arabischen Liga belegten Staaten und Unternehmen, die mit Israel zusammenarbeiteten, mit Wirtschaftssanktionen. Dies wurde nach dem Krieg von 1973 besonders wichtig.

In der Union der Sozialistischen Sowjetrepubiken (UdSSR) überlebte das antisemitische Erbe der Zarenzeit bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Da das Judentum als Religion angesehen wurde, war es für den orthodoxen Sowjetkommunismus nicht akzeptabel. Die jüdische Presse wurde unterdrückt, führende jüdische Schriftsteller wurden zum Schweigen gebracht, die Bildungsmöglichkeiten für Juden beschnitten. Die Emigration war für Juden nahezu unmöglich. Erst im Zuge der politischen Umbrüche in der UdSSR und in Osteuropa Ende der achtziger Jahre wurde den Juden die Emigration erleichtert. Das Erstarken des Nationalismus, das den Untergang der UdSSR und den Niedergang des Kommunismus begleitete, führte jedoch zu Beginn der neunziger Jahre zu neuen antisemitischen Feindseligkeiten..

 

PERSONEN:

 

 

Mendelssohn, Moses (1729-1786), deutscher Philosoph und leidenschaftlicher Verfechter der jüdischen Bürgerrechte. Mendelssohn wurde in Dessau geboren und von seinem Vater sowie von dem Rabbiner des Ortes erzogen. 1750 wurde er in Berlin mit der Erziehung der Kinder eines Seidenhändlers betraut und wurde später dessen Partner. Im Jahre 1754 machte er die Bekanntschaft des deutschen Dramatikers und Kritikers Gotthold Ephraim Lessing mit dem ihn fortan eine lebenslängliche Freundschaft verband. Lessing, ein bedeutender Befürworter der jüdischen Emanzipation, gestaltete den Helden seines Stückes Nathan der Weise (1779) nach dem Vorbild Mendelssohns. Lessing war auch der Herausgeber von Mendelssohns Philosophischen Gesprächen, die 1755 anonym erschienen. Im gleichen Jahr veröffentlichten sie die gemeinsam verfaßte Satire Pope ein Metaphysiker.

1764 gewann Mendelssohn mit seiner Abhandlung über die Evidenz in den Metaphysischen Wissenschaften den Preis der Berliner Akademie für das beste Essay zu einem metaphysischen Thema. Seine Abhandlung Phädon (1767), die seinem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele Ausdruck verlieh, war dem platonischen Dialog Phaidon nachempfunden und brachte ihm den Beinamen "Sokrates der Deutschen" ein.

 

 

Herzl, Theodor (1860-1904), jüdischer Schriftsteller und Journalist, Begründer des modernen politischen Zionismus, gilt als eine der prägenden Persönlichkeiten in der Bewegung, die zur Gründung des Staates Israel führten.

Herzl wurde am 2. Mai 1860 in Budapest geboren. Er studierte Jura in Wien, widmete sich aber auch der Schriftstellerei und wurde bald ein bekannter Dramatiker und Essayist. 1891 ernannte man ihn zum Korrespondenten der Wiener Neuen Freien Presse in Paris. Der gewalttätige Antisemitismus, der in Frankreich 1894 in Folge des Kriegsgerichtsverfahrens gegen den jüdischen Armeeoffizier Alfred Dreyfus ausbrach, hatte sehr großen Einfluß auf Herzl. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er geglaubt, die allmähliche Eingliederung der Juden in die christlichen Gesellschaften Europas sei das beste Mittel, dem Antisemitismus zu begegnen. Die Auswirkungen des Kriegsgerichtsverfahrens überzeugten ihn jedoch davon, daß das Problem nur gelöst werden konnte, wenn die Juden eine eigene Nation mit souveränem Staat werden würden.

1896 veröffentlichte Herzl die Schrift Der Judenstaat, in der er sich für die Gründung eines eigenen jüdischen Staates aussprach. Zwar hatten dies vorher schon andere prominente Juden als Lösung für das Problem des Antisemitismus vorgeschlagen, aber Herzl war der erste, der zu sofortigem und international anerkanntem Handeln aufrief. Bei der Umsetzung seines Planes in die Praxis sollte ein Kongreß der Zionisten helfen, der 1897 in Basel zusammentrat. Der Kongreß entschied sich für Palästina – wegen seiner engen Verbindung mit der jüdischen Geschichte – als Territorium des zukünftigen jüdischen Staates. Außerdem gründete man die Zionistische Weltorganisation, die die ökonomischen Grundlagen für den zukünftigen Staat bereitstellen sollte.

Da Palästina damals in osmanischer Hand war, versuchte Herzl mit Sultan Abd ül-Hamid II. zu verhandeln, der für die zionistische Sache Verständnis zeigte. Doch die Verhandlungen waren ergebnislos, ebenso wie Herzls Gespräche mit anderen Staatsmännern und Geldgebern. Bevor er seinen Traum einer neuen Heimat für die Juden verwirklicht sehen konnte, starb Herzl am 3. Juli 1904. Herzls sterbliche Überreste wurden 1949 auf einen nach ihm benannten Berg westlich von Jerusalem überführt; dort befindet sich auch eine Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des 2. Weltkrieges. In seinem Roman Altneuland (1902) entwarf er das Bild eines jüdischen Zukunftsstaates in Palästina; seine Tagebücher wurden 1922 und 1923 in drei Bänden veröffentlicht.

 

 

Zionismus, im späten 19. Jahrhundert entstandene, auf die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina gerichtete religiös-politische Bewegung. Ihren Namen gab der Bewegung 1890 der österreichische jüdische Philosoph Nathan Birnbaum, er leitet sich ab von Zion, im Alten Testament der Name der von David eroberten Jebusiterfestung in Jerusalem.

 

Historischer Hintergrund

Als eine organisierte politische Bewegung entstand der Zionismus im 19. Jahrhundert; doch seine Wurzeln reichen bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurück, als die Juden in die Gefangenschaft nach Babylon verschleppt wurden, und ihre Propheten ihnen Mut zusprachen, daß Gott sie eines Tages wieder nach Palästina, oder Eretz Israel (Land Israel), zurückkehren lasse. Über die Jahrhunderte verknüpften die Juden der Diaspora die Hoffnung auf eine Heimkehr mit dem Kommen des Messias, eines Erlösers, den Gott zu ihrer Befreiung schicken würde. Einzelne Juden wanderten oft nach Palästina aus, um sich dort jüdischen Gemeinden anzuschließen, die hier von jeher weiterbestanden; doch die Juden blieben unter der weitestgehend arabischen Bevölkerung immer in der Minderheit.

 

Die Haskalah und die Assimilierungsbewegung

Ein weltlicher Zionismus konnte nicht entstehen, bevor das jüdische Leben nicht selber bis zu einem gewissen Grad verweltlicht war. Dieser Vorgang setzte im 18. Jahrhundert mit der Haskalah (hebräisch: Aufklärung) ein, einer Bewegung, die von der europäischen Aufklärung angeregt war und anfangs ihre wesentlichen Impulse von dem deutschen jüdischen Denker Moses Mendelssohn erhielt. Die Haskalah markiert den Anfang einer Abkehr vom überkommenen strenggläubigen Judentum und schuf ein Bedürfnis für ein jüdisches Nationalgefühl, das neben die Religion als einheitsstiftende Kraft treten sollte. Anfangs ging diese Bewegung aber in Richtung auf eine Assimilation in die europäische Gesellschaft. Die liberale jüdische Reformbewegung in Deutschland strebte danach, das Judentum auf ein bloßes religiöses Bekenntnis zu reduzieren, das es den Juden erlauben würde, die deutsche Kultur anzunehmen. Die Errungenschaft der politischen Gleichheit für das europäische Judentum nahm 1791 in Frankreich während der Französischen Revolution ihren Anfang und breitete sich in den nächsten Jahrzehnten über ganz Europa aus.

 

Der Aufstieg des modernen Antisemitismus

Die politische Emanzipation stellte sich aber als eine falsche Morgenröte heraus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland und Österreich-Ungarn organisierte antisemitische Parteien. In Rußland, wo die Emanzipation ohnehin nur eine oberflächliche gewesen war, löste die Ermordung des Zaren Alexander II. 1881 eine Welle von nationalen Gefühlen aus; im ganzen Land kam es zu Pogromen an den Juden.

Um den Verfolgungen zu entgehen, verließen viele russische Juden das Land. Viele emigrierten in die Vereinigten Staaten. Nur wenige gingen in das damals türkisch beherrschte Palästina. Sie wurden von dem französischen Juden Baron Edmond de Rothschild unterstützt.

 

Die Gründung der zionistischen Bewegung

 

1896 veröffentlichte Theodor Herzl, ein österreichischer jüdischer Journalist, ein Broschüre mit dem Titel Der Judenstaat, in dem er die Gründe für den Antisemitismus analysierte und die Gründung eines eigenen jüdischen Staates vorschlug. Obwohl Herzl Audienzen beim deutschen Kaiser Wilhelm II. und bei Sultan Abd ül-Hamid II. der Türkei erhielt, blieb ihm deren Unterstützung versagt.

1897 veranstaltete Herzl den 1. Zionistischen Weltkongreß in Basel. Die 200 Delegierten des Kongresses formulierten das Baseler Programm, ein Grundsatzpapier für die zionistische Bewegung. Das Programm definierte als Ziel des Zionismus die Schaffung "einer durch das öffentliche Recht garantierten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina". Der Kongreß gründete die Zionistische Weltorganisation (WZO) und ermächtigte sie, in jedem Land mit einem nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil Zweigstellen zu errichten.

Als es Herzl nicht gelang, vom türkischen Sultan einen Freibrief zu erhalten, richteten sich seine diplomatischen Aktivitäten auf Großbritannien; doch das britische Angebot, die Möglichkeit einer jüdischen Kolonie in Ostafrika zu untersuchen – der sogenannte Uganda-Plan – spaltete die zionistische Bewegung. Die russischen Zionisten bezichtigten Herzl des Verrats an dem zionistischen Programm. Als der 7. Zionistenkongreß (1905) den Ostafrika-Plan ablehnte, gründete Israel Zangwill die Jüdische Territorialorganisation, deren Ziel es war, wo immer es auch sei, ein für die jüdische Besiedelung geeignetes Land zu suchen. Zangwills Organisation blieb jedoch ohne Einfluß.

 

Vielfalt des Zionismus

Der Zionismus brachte ein Fülle unterschiedlicher Ideen und Ideologien hervor. Der kulturelle Zionismus, dessen Hauptvertreter der russische Journalist Achad Haam war, hatte vor allem das Ziel, Palästina zu einem Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Wachstums des jüdischen Volkes zu machen.

Experimente sozialistischer Zionisten, die in Israel einen sozialistischen Staat errichten wollten, brachten eine besondere Form landwirtschaftlicher Kooperativen hervor, den Kibbuz (hebräisch: Sammlung). Er bildete das politische, kulturelle und militärische Rückgrat des Yishuv (hebräisch: Siedlung, die jüdische Gemeinde in Palästina).

Religiöse Zionisten sahen ihr Ziel darin, die nationale Wiedererweckung der Juden in traditionellere Bahnen zu lenken; doch die politischen Parteien, die sich an der politischen Macht beteiligten, sahen sich der Kritik ausgesetzt, sie hätten im Tausch für die materiellen Insignien der Macht ihren Glauben kompromittiert.

 

Zionismus im 20. Jahrhundert

Die beiden größten Erfolge des Zionismus in diesem Jahrhundert sind die Verpflichtung, die die britische Regierung in der Balfour-Erklärung von 1917 einging, und die Errichtung des Staates Israel 1948.

Während des 1. Weltkrieges umwarben die Briten die Zionisten, um sich die strategische Kontrolle über Palästina zu sichern und die Unterstützung der Juden in der Welt für die Sache der Alliierten zu gewinnen. Die Erklärung, enthalten in einem Brief von Außenminister Arthur J. Balfour an einen Führer der britischen Zionisten, befürwortete die Errichtung "einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes" in Palästina. Nach der Eroberung Palästinas durch die Briten 1917/18, bot die Erklärung die lange erhoffte Chance auf einen eigenen Staat.

Die Zwischenkriegszeit

Nach dem Krieg mußte der Zionismus zwei Rückschläge verkraften. Den russischen Juden, der traditionellen Quelle der zionistischen Auswanderung, versagte das neue Sowjetregime die Auswanderung. Dazu kam ein Streit zwischen dem Führer des amerikanischen Zionismus, Louis Brandeis, und Chaim Weizmann, dem Mann, dem das Verdienst zukam, die Balfour-Erklärung erwirkt zu haben. Kernpunkt des Streites waren grundsätzliche ideologische Gegensätze in der Frage über die Zukunft des Zionismus. Weizmanns "synthetischer Zionismus", der den politischen Kampf und die Besiedlung befürwortete, siegte über den pragmatischen Ansatz von Brandeis, der sich auf die Besiedlung konzentrierte, ohne auf die Frage der zukünfigen Nation einzugehen. Weizmann ging aus diesem Streit als der uneingeschränkte Sieger hervor; Brandeis und seine Gruppe spalteten sich ab und konzentrierten sich bis zum Beginn des 2. Weltkrieges auf die Hilfe für die europäischen Juden.

1929 gründete Weizmann die weitergefaßte Jüdische Behörde (Jewish Agency), die sich die finanzielle Unterstützung von Juden zunutze machte, die ihren Brüdern in Palästina helfen wollten, ohne die politischen Ziele des Zionismus zu billigen.

Während der britischen Mandatszeit (1920-1948) wuchs der Yishuv von 50 000 auf 600 000 Menschen. Die Mehrzahl der Neueinwanderer war vor der nationalsozialistischen Verfolgung in Europa geflohen. 1935 spaltete sich eine revisionistische Gruppe unter der Führung von Ze‘ev Vladimir Jabotinsky von der zionistischen Bewegung ab und bildete die Neue Zionistische Partei. Während der späten dreißiger Jahre setzte sich Jabotinsky, der einen jüdischen Staat beiderseits des Jordans befürwortete, in einer fruchtlosen Kampagne für eine Massenevakuierung der europäischen Juden nach Palästina ein.

Das Zusammenleben mit den Arabern in Palästina wurde zunehmend schwieriger. Wiederholte arabische Ausschreitungen in den zwanziger Jahren gipfelten in einem jahrelangen Aufstand (1936-1939).

 

Das Weißbuch

Kurz vor dem 2. Weltkrieg änderte die britische Regierung ihre Palästinapolitik, um die arabische Welt zu besänftigen. Das Weißbuch vom Mai 1939 beendete das Engagement Großbritanniens für den Zionismus und versprach innerhalb der nächsten zehn Jahre die Gründung eines palästinensischen Staates. Die arabische Mehrheit in Palästina wurde durch eine Klausel garantiert, nach der während der folgenden fünf Jahre weitere 75 000 Juden einwandern durften, danach aber eine Einwanderung nur noch mit arabischer Zustimmung möglich sein sollte.

Das Weißbuch von 1939 zerbrach die traditionelle anglo-zionistische Allianz und rief im Yishuv heftige Proteste hervor. Im Mai 1942 verlangten zionistische Führer auf ihrem Treffen im Biltmore Hotel in New York einen Jüdischen Demokratischen Commonwealth – einen Staat – im ganzen westlichen Palästina. Dieses "Biltmore-Programm" markierte eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen zionistischen Politik. Der Holocaust, der systematische Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, überzeugte schließlich die westliche Judentum von der Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Staates. 1944 begann die Irgun Zvai Leumi (Nationale Militärorganisation), eine zionistische Guerillaarmee unter der Führung des späteren israelischen Premierministers Menachem Begin, eine bewaffnete Revolte gegen die britische Herrschaft in Palästina. Terrorangriffe richteten sich gegen britische Truppen und Beamte und gegen palästinensische Araber.

 

Der Staat Israel

Am 14. Mai 1948 endete das britische Mandat über Palästina, und die Juden erklärten ihre Unabhängigkeit in dem neuen Staat Israel. Israel verdankt seine Existenz nicht zuletzt den Sympathien im Westen nach dem unsagbaren Leid, daß die Juden in Europa erlitten hatten, und dem politischen Einfluß der amerikanischen Juden, der die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman sicherte.

Das Ziel des Zionismus während der ersten Jahre der Staatlichkeit schien klar – Israel zu festigen und zu verteidigen. Doch die Beziehungen zwischen dem neuen Staat und den Zionisten erwiesen sich als problematisch. Der erste Premierminister Israels, David Ben-Gurion, bestand darauf, daß zionistische Führer, die in der Diaspora blieben, keinen Einfluß auf die politischen Entscheidungen Israels haben sollten, auch wenn Israel seine Existenz ihnen verdanken sollte.

Nahum Goldmann, Leiter des WZO von 1951 bis 1968, vertrat den Standpunkt, daß der Zionismus auch das jüdische Leben in der Diaspora pflegen und bewahren sollte. Amerikanische Zionisten, vor allem Rabbi Mordecai Kaplan, drängten auf eine Neudefinition des Judentums und warnten vor den Gefahren eines Schismas zwischen Israel und den Juden in der Diaspora.

Während der siebziger Jahre konzentrierten sich die zionistischen Aktivitäten auf die sowjetischen Juden, denen endlich erlaubt wurde, in begrenzter Zahl auszuwandern. Wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Zionisten und jüdischen Hilfsorganisationen; diesmal über die Frage, ob die Auswanderung nach Israel die einzige Alternative für die sowjetischen Juden sein sollte. In den späten achtziger Jahren setzte eine Massenauswanderung der sowjetischen Juden nach Israel ein.

Die arabischen Staaten und ihre Anhänger haben wiederholt den Zionismus als ein "Werkzeug des Imperialismus" gebrandmarkt. 1975 erließ die UN eine Resolution, die den Zionismus als eine Form von Rassismus verurteilte; sie wurde erst 1991 von der Vollversammlung mit 111 zu 25 Stimmen annulliert. Die Zionisten ihrerseits haben betont, daß ihre Bewegung nie die arabische Selbstbestimmung abgelehnt habe, das grundlegende Ziel des Zionismus sei einzig die Befreiung des jüdischen Volkes.

 

 

Judentum, konservatives, traditionalistische Bewegung der Juden. Während Zacharias Frankel als geistiger Vater des konservativen Judentums gilt, übte Salomon Schechter, der am Jewish Theological Seminary of America tätig war, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluß auf die Bewegung aus. Konservative Juden, die der Halacha eine zentrale Stellung beimessen, sind jedoch verglichen mit den Befürwortern des orthodoxen Judentums eher bereit, ihre Vorschriften den sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Umständen anzupassen. Dabei betonen sie die Tatsache, daß sich das Judentum in den entscheidendsten Phasen seiner Geschichte, trotz eines regen Austausches mit den umgebenden Kulturen, seinen Grundethos bewahrt habe. Auch erkennen sie die Ergebnisse der modernen Exegese an. Als 1980 eine Mehrheit für die Priesterweihe der Frau stimmte, stellten einige der führenden Rabbiner fest, daß diese Entscheidung die Vorschriften der Halacha verletze, spalteten sich schließlich von der Bewegung ab und bildeten die Vereinigung für traditionelles Judentum.

Bedeutung erlangte das konservative Judentum in Israel und Großbritannien, wo es unter seinem hebräischen Namen "Masorti" bekannt ist. Zwar griff die Bewegung auch auf andere Gebiete über, ihre Anhängerschaft stellt jedoch nur in Nordamerika einen bedeutenden Anteil an den Besuchern der Synagogen (nämlich ungefähr ein Drittel) dar.

 

Reformjudentum, seit dem 19. Jahrhundert bestehende Erneuerungsbewegung unter den Juden. Im frühen 19. Jahrhundert bemühten sich deutsche Reformer, wie z. B. Israel Jacobson, um eine Neubelebung des öffentlichen Gottesdienstes, indem sie seine Bedeutung erhöhten, veraltete Praktiken abschafften, Gebete und eine wöchentlich stattfindende Predigt in der Landessprache einführten sowie Chor- und Orgelmusik und die Konfirmation ins Programm aufnahmen. Zwar suchten sie sich durch eine Berufung auf die traditionelle Autorität zu rechtfertigen, es wurde jedoch schon bald offenbar, daß sie sich nicht an Normen und Formulierungen des Talmud gebunden sahen. In diesem Sinne schafften sie Gebete zugunsten eines persönlichen Messias ab und führten die kritisch-historische Leseweise jüdischer Texte, einschließlich der Bibel, ein.

Die klassischen Formulierungen der Reformen entstanden innerhalb des amerikanischen Judentums unter der Leitung von Isaac Mayer Wise auf den "öffentlichen Foren" in Philadelphia (1869) und Pittsburg (1885). Auf dem 1937 abgehaltenen Columbus Forum wurde eine größere Ausgewogenheit zwischen den allgemeinen und besonderen Aspekten des Judaismus sowie eine Bejahung des Zionismus erreicht.

Das San Francisco Forum von 1976 behandelte die Auswirkungen des Holocaust und der Existenz des Staates Israel. Das Hebrew Union College ordinierte Sally Priesand als erstes weibliches Mitglied des Rabbinats zum Rabbi (1972). Die Einstellung den Mischehen gegenüber lockerte sich, und im Jahre 1983 wurde von der Central Conference of American Rabbis der Beschluß erlassen, daß jeder, der ein jüdisches Elternteil nachweisen könne, als Jude anerkannt werden solle.

In den Vereinigten Staaten macht der Anteil der reformierten Juden etwa 35 Prozent und in Großbritannien 15 Prozent der jeweiligen Synagogengemeinschaft aus. In Israel ist das reformierte Judentum zwar aktiv, wird jedoch offiziell nicht anerkannt.

Die Begriffe "Liberales" und "Reformiertes" Judentum werden in den meisten Ländern synonym verwendet. Allerdings bezieht sich in Großbritannien der Begriff "Liberal" auf die um 1909 von Lily Montagu und Claude Montefiore gegründete Bewegung, die sich von dem Reformjudentum durch ihre radikal fortschrittlichen Anschauungen bezüglich Tradition und Ritus unterscheidet.

 

 

 

Judentum, orthodoxes, streng religiöse Glaubensrichtung der Juden. Der Begriff "orthodox" wurde zum ersten Mal 1807 von deutschen Reformatoren zur Bezeichnung ihrer traditionalistischen Gegner verwendet. Innerhalb des Judentums bezeichnet er jene Gläubigen, die die Halacha (jüdische Gesetzeslehre) als verbindlich ansehen. In Israel ist sie die einzige offiziell anerkannte Richtung des Judentums und verleiht ihren Gesetzesgelehrten, den Rabbinern, das alleinige Recht der Eheschließung sowie Statusbestimmungen der Juden. Außerhalb Nordamerikas ist die große Mehrheit des Weltjudentums, das einer religiösen Organisation angehört, dem orthodoxen Judentum zuzurechnen.

Die "moderne" oder "zentristische" Orthodoxie (Neo-Orthodoxie), als deren Begründer Samson Raphael Hirsch mit seinen Untersuchungen zu Thora und die Landessitte gelten kann, strebt eine Synthese zwischen Tradition und zeitgenössischer Kultur an. Die litauischen Yeshivot (Talmudschulen), die den Wert eines intensiven Studiums des Talmud betonten, die Musarbewegung Israel Salanters, die der ethischen und geistigen Disziplin jedes einzelnen große Bedeutung beimaßen, die Chassidim, die eine mystische Meditation und eine lebendige Frömmigkeit pflegten sowie die Tradition der Sephardim trugen zur Vielfalt der zeitgenössischen jüdischen Orthodoxie bei.

Obwohl es einige jüdische Organisationen gibt, die das orthodoxe Judentum vertreten wie z. B. das israelische Hauptrabbinat, die Konferenz Europäischer Rabbiner und den Rabbinische Rat von Amerika, existiert kein allumfassendes leitendes Organ. Die Vorschriften der Halacha werden von den einzelnen "Thoraweisen", die für ihre Gelehrsamkeit und Frömmigkeit bekannt sind, ausgelegt. Diese Vorschriften umfassen u. a. rituelle Angelegenheiten, Fragen zur Erhaltung des Friedens sowie der medizinischen Ethik, der Bürgerrechte und des gesellschaftlichen Status der Frau. Nach orthodoxer Auffassung legen die Weisen die Thora im Geiste der jeweiligen Generation aus. Das Gesetz gilt als von Gott geschaffen und ewig gültig.

 

Württemberg heute: etwa 700 Juden

 

Quellen:

 


 

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